„Lass uns noch schnell den Nahost-Konflikt lösen / Wir sind doch gerade in Dresden.“
Mit dieser ironischen Line bringt der Rapper Audio88 gleich zweierlei auf den Punkt:
Erstens scheint es, seit es „den Nahostkonflikt“ gibt, kein wichtigeres, emotionaleres Diskussionsthema bei Parties oder Alltagsgesprächen zu geben als die Konflikte in der „Halbmondregion“ (Levante).
Zweitens drückt sich in ‚unserem‘ Verhältnis zu „dem nahen Osten“, das wir haben, ein letztlich kolonialistisch-verfremdender, eurozentrischer Blick aus, für den es schließlich auch den „fernen Osten“ gibt.
Ich möchte aber behaupten, dass dieser letztlich kolonialisierende-eurozentrische Blick für „beide Seiten“ dieser Diskussionen gilt, wenn er aus einer Perspektive kommt, die nicht-betroffen ist (von Rassismus, Islamophobie, Antisemitismus, Entstaatlichung oder Verfolgung) und in deutscher Sprache stattfindet.
Entweder wird mit dem vorgeschobenen Argument, angeblich Kritik nicht mehr ausreichend äußern zu dürfen aufgrund einer falschen Erinnerungspolitik in Bezug auf die deutsche Vergangenheit, dann doch Kritik an Israels Politik (und deutsches und westliches Zutun) geäußert.
Oder es wird mit dem Verweis auf den möglichen antisemitischen Subtext einer solchen geäußerten Kritik sofort und gleichzeitig erinnerungs- und realpolitisch das Handeln Israels gerechtfertigt oder erklärt.
Ich möchte darüber hinaus behaupten, dass die Art dieser Party- oder Universitätsbibliotheksdebatten (also noch einmal: von dezidiert Nichtbetroffenen) einer gewissen intellektuellen Tradition entstammt, Diskurs zu führen, die auch problematisch sein kann, weil sie Dinge am Ende komplizierter erscheinen lässt, als sie eigentlich sind, und außerdem den Sinn politischer Äußerungen verunklart. Im Internetsprech ausgedrückt: It’s not that deep.
Und schließlich will ich über den in einigen Diskursen berühmt-berüchtigten Selbst- oder Fremdmarker „antideutsch“ nachdenken, vor allem in den jüngeren Debatten. Was bedeutet „antideutsch“ und wo kommt das her?
Zwei Beispiele, um direkt den aktuellen schiefen und scharfen Debattenkontext aufzuzeigen:
In einem Monat finden in New York die Bürgermeister_innenwahlen statt. Der New Yorker Bürgermeisterkandidat Zoran Mamdani kritisiert die Politik Israels im jüngsten Krieg scharf. Einige in Deutschland behaupten, dass solche klaren Töne hier ja fehlen würden. Kurz nach seinem Erfolg in den Vorwahlen wird er aber sofort stark kritisiert, weil seine Worte einigen nicht scharf genug sind. Je nach Perspektive gehört er also einer Seite der Debatte an, der man selbst auf jeden Fall nicht angehört.
Das Gleiche gilt auch für Bernie Sanders, der als Zio-Nazi den einen, den anderen als Palli-Nazi gilt (Hauptsache: ein geschichtlicher Verweis auf den Nationalsozialismus ist inklusive).
In der deutschsprachigen Debatte spiegelt sich diese Schieflage in den Debatten über und innerhalb der Partei der Linken wider.
Hier kommen wir auch zur ersten von gleich vier absurden Verschwörungstheorien, die ich im Laufe dieses Textes erwähnen möchte. Heidi Reichinnek, die u.a. Nah-Oststudien in Halle studierte, soll dort „antideutsch“ beeinflusst worden sein. Deswegen sei sie in Interviews nicht so kritisch mit Israel, wie eigentlich angemessen.
Eine Politikerin in sehr großer politischer Verantwortung in der Bundesrepublik Deutschland soll sich also nicht aufgrund ihrer aktuellen politischen Verantwortung und ihrer Meinung differenziert äußern, sondern wegen jahrelang zurückliegender Universitätsdebatten mit sozialwissenschaftlichen Möchtegernintellektuellen. Ist das eine wahrscheinliche Theorie?
Auch zum Parteitag der Linken im Mai 2025 gab es eine Verschwörungstheorie: Antideutsche hätten den Diskurs unterwandert. Dabei ist die Chronologie nicht so kompliziert: Die Politikerin Ulrike Eifler hatte ein Bild gepostet, auf der das ganze jetzige Staatsgebiet Israels und der palästinensischen Autonomiegebiete den Staat Palästina bilden. Dass das weder eine angemessene Forderung nach dem 7. Oktober vor zwei Jahren noch eine realistische im Angesicht des jetzigen israelischen Angriffskriegs bildet, müsste doch jeder Person auffallen? Darauf gab es scharfe Antworten u.a. von Ines Schwerdtner, die zur Löschung des Tweets aufforderte. Und daraus wurde dann die Verschwörungstheorie: Absichtlich hätten „Antideutsche“ den Parteitag unterwandert. Statt also die Ergebnisse des Parteittags als Ergebnisse hitziger Debatten darzustellen von Menschen, die zu unterschiedlichen Schlüssen kommen und auf unterschiedliche Weise gleich-dumme Sachen dabei sagen, wird eine Absicht „der einen Seite“ unterstellt.
Das alles macht umso weniger Sinn, weil im Laufe des Parteitags sogar Eiflers et al. Position eine Mehrheit bekam, sich der Jerusalemer Erklärung zum Antisemitimus anzuschließen, also Kritik an Israel nicht vorschnell als antisemitisch zu erklären. Außerdem ist der vibe shift wegen der andauernden Unrechtstaten Israels im Krieg und auch wegen vieler Neu-Parteimitglieder schon lange im Gange, sodass „Antideutsche“ bereits aus der Partei ausgetreten sind (wie im berliner Landesverband geschehen). Dann immer noch sich gegen die angeblich starke Debattenposition der „Antideutschen“ zu wenden, einfach nur, weil einige Linken-Politikerinnen in Verantwortungsposition sich anscheinend zu differenzierten Äußerungen genötigt fühlen und das im Angesicht des Schreckens des Krieges vielen Menschen ohne politische Verantwortung scheinbar nicht mehr möglich erscheint, ist verschwörungstheoretisch.
Es ist nicht so kompliziert: Ob Netanyahu ein Großisrael fordert oder Ulrike Eifler ein großes Palästina: Beides ist empörend. Doch nur eine Person wird international strafgerichtlich gesucht: Israels Verhalten ist empörend, weil eine rechtsextreme Regierung an der Macht Völkerrechtsverletzungen in einem Angriffskrieg begeht.
Daraus folgt aber nicht, dass die Freiheit der gesamten Welt von der Freiheit Palästinas abhängt und jegliches politisches Äußern nur daran gemessen werden kann. Dieses Argument sah ich auf einem post einer (nichtbetroffenen!, weißen) Person.
Daraus folgt nicht, dass, so die dritte Verschwörungstheorie, Israel den Publikumsvote des ESC 2025 manipuliert habe… (auch das sah man auf posts…wie wahrscheinlich ist diese Theorie?)
Oder etwa: Dass Israel die Hamas unterwandert und den Anschlag provoziert habe, um den Krieg von Zaun zu brechen. (Die vierte Verschwörungstheorie – sie zeichnet sich wie alle solche Theorien dadurch aus, etwas komplizierter zu machen, als es eigentlich ist: Als würde eine rechtsextreme Regierung nicht reichen, um Schreckliches zu tun. Und als gäbe es auf der anderen Seite keinen politischen Islamismus.)
In Israel regiert eine rechtsextreme Regierung. Und in Deutschland wirken rechte bis rechtsextreme Kräfte. Das ist ein Punkt, der oft übersehen wird. Und der sogar dazu führt, dass etwas als „antideutsch“ bezeichnet wird, das es eigentlich gar nicht ist…
Ein drittes Beispiel, um das klar zu machen: Chefket wird nach Kritik von Weimer von Böhmermann ausgeladen. Er hat, wie Ulrike Eifler, die Einstaatenlösung für Palästina gefordert. Wolfram Weimer, unser unseliger Kulturstaatssekretär, hat das genau wie Böhmermann kritisiert. Aber gehören sie der gleichen „antideutschen“ Bewegung an? Natürlich nicht. Jan Böhmermann mag in dem Sinne ein antideutscher Linker sein, dass er antisemitismussensibel die Einstaatenlösung ablehnt und politische Kommunikation darüber, die sich gegen Israel als Staat (und nicht gegen die Regierung und ihre Unrechtstaten) richtet, keine Bühne geben will. Wolfram Weimer ist als konservativer, rechter Patriot aber mit Sicherheit nicht gegen Deutschland. Es wäre absolut absurd, diesen Patrioten als „antideutsch“ zu bezeichnen.
Auch wenn in letzter Zeit (auch schon vor dem jüngsten Krieg) eine Allianz zwischen konservativen politischen Kräften, staatlichen oder staatsnahen Institutionen und „antideutscher“ Meinungsbildung in linken Medien entstand, wenn es galt, öffentlichen Personen keine Bühne bieten zu wollen, die sehr viel und unausgewogen Israelkritik betreiben, heißt das doch nicht, dass sie alle aus der gleichen Motivation heraus Menschen wie Judith Butler, Roger Waters, Achille Mbembe oder Nancy Fraser (oder jetzt Chefket) wieder ausladen oder Preise wieder aberkennen wollten. Es macht einen Unterschied, ob man das tut, weil man als rechte Person mit dem sicherheitspolitischen, kriegspositiven und islamfeindlichen Programm der rechtsextremen Regierung in Israel d’accord geht und deswegen die Ausladung linker, nicht nur Israel, sondern im Zweifel auch (wenn auch manchmal eigenartigerweise mit leiseren Tönen) Deutschland kritisierender Intellektueller unterstützt, oder ob man in der innerlinken Debatte Antisemitismus befürchtet und deswegen zu möglicherweise übertriebenen Mitteln greift. Meiner Meinung nach war nicht jeder Fall übertrieben, wobei in den Fällen, wo Rassismus und Islamophobie gegriffen haben, die den vielleicht noch halbwegs gerechtfertigten Kampf gegen Antisemitismus ungerechtfertigt werden lassen, das anders bewertet werden muss als bei Fällen wie Roger Waters, der selbst zum Boykott aufrufende privilegierte Künstler.
Menschen, die in der Debatte besonders antisemitismussensibel sind oder waren und erinnerungspolitisch viel an die Shoah erinnert haben, sind außerdem nicht die gleichen Trägerkreise wie konservative Politker_innen, die in den letzten Jahren angefangen haben, Erinnerungspolitik zu benutzen, um sich in einem bestimmten Licht darstellen zu können. Also ist auch die Kritik, dass an nationalsozialistische Unrechtstaten in Deutschland viel erinnert wird, verfehlt, wenn sie davon ausgeht, dass diese Form der Erinnerungspolitik rechte Politik begünstige.
Merz mag in Synagogen weinen, wie er will, trotzdem ist das genaue Gegenteil der Fall und man muss wirklich nicht lange in die Vergangenheit schauen, um zu sehen, wie unselbstverständlich überhaupt auch nur die Erinnerung an Opfer, nicht nur an Täter der Geschichte ist. Es ist ein Irrglaube, dem viele anhängen, dass Deutschland anders als andere Länder besonders gute Aufarbeitung gemacht habe, und erst auf Grundlage dieser Lüge kann man auf die Idee kommen, dass ein übertriebenes „Gedächtnistheater“ statt der eigentlich notwendigen „Gegenwartsbewältigung“ (Czollek) stattfinde. Stattdessen haben Lernprozesse in der Geschichte gegen den Widerstand der Mehrheitsgesellschaft stattgefunden.
Es ist also ein Unterschied, ob man Friedrich Merz, der in der Gedenkstätte weint und Waffen liefert, kritisiert, oder Düzen Tekkal, die auf das Leid drusischer Menschen hinweist und trotzdem den Rassismus in Deutschland kritisiert.
Und: Es ist auch ein Unterschied, wann man welche Position einnimmt. Ich verstehe nicht, warum das viele anders sehen, vielleicht liege ich ja auch völlig falsch. Aber ich finde tatsächlich total nachvollziehbar, dass Luisa Neubauer kurz nach dem 7. Oktober Angst vor Antisemitismus hatte und jetzt zwei Jahre später sich anders positioniert, weil das begangene Unrecht in Gaza ihre Angst überwiegt. Sie wird dafür stark kritisiert – aber macht der Zeitpunkt denn keinen Unterschied? Da kann auch noch so sehr eine smypathisch in einem Interview sie darauf hin befragen – in einem zugegebenermaßen genialen, aber dann am Ende des Tages doch nur auf vibes basierenden Interviewstil.
Genauso sagt die Rapperin Nura nun, dass sie ja schon immer Recht gehabt habe und die Kritik von Böhmermann an sie im Oktober 2023 total falsch gewesen sei – sie hatte in einem Musikvideo ein free palestine gezeigt, kurz nach den Anschlägen und Angriffen der Hamas. Aber macht das nicht einen Unterschied, wann man politische Symbole auf welche Weise kommuniziert? Ich verstehe das wirklich nicht. Würde es nicht auch einen Unterschied machen, wenn eine andere Regierung regiert? Nicht in dem Sinne, dass dann kein Unrecht geschehe (genau wie unter Obama ja auch Zivilistinnen von den USA umgebracht worden sind), aber in dem Sinne, dass noch mehr Unrecht geschieht, wenn jemand wie Trump oder Netanyahu regiert?
Aber was unterscheidet nun Weimer von Böhmermann, wenn am Ende des Tages zwei weiße Deutsche anderen verbieten wollen, über Israel zu reden, obwohl dort großes Unrecht geschieht? Ich finde, es unterscheidet sie ebenso viel wie Trump von Obama: Weimer hat ein Interesse an einer Allianz mit dem Staat Israel, weil es zu seinen politischen Positionen passt. Böhmermann hingegen möchte antisemitismussensibel und links sein. Und das ist in gewisser Weise der Kern dessen, das „antideutsch“ ausmacht.
Man kann das verteufeln. Doch warum will man die Motivation hinter diesen Argumenten nicht mehr verstehen?
In der Geschichte der linken Bewegung in Westdeutschland wurde sich gegen imperialistische Politik, womit Aufrüstung und Invasion gemeint war, gerichtet. Dabei galt die imperialistische Politik der Sowjetunion als weniger problematisch, da sie dennoch die Interessen der Arbeiterbewegung als sozialistische Staaten vertrete. Die imperialistische Politik der USA hingegen war nicht nur kriegerisch und in dem Sinne abzulehnen, sondern zugleich kapitalistisch. Die besitzende Klasse profitierte von der Kriegsrhetorik, weil Aufrüstung Schwer- und Großindustrie stärkt, zugleich aber Invasionen neue Märkte und neue Rohstoffe erschließen: Besonders im arabischen Raum liegen und lagen die Rohstoffschätze des Erdöls, das als effizienter Energierträger das Reicherwerden der Wenigen im wahrsten Sinne befeuerte wie nichts anderes.
Israel als eigenständiger Staat, der die britische Kolonialherrschaft „Palästina“ abgelöst hatte, wurde nach dieser antiimperialistischen Logik genauso zu einem kapitalistischen Player. Gerade auch in der Zeit, in der es so aussah, als würde die panarabische sozialistische Bewegung fruchten und Islam und Sozialismus miteinander verbinden, war Israel Störfaktor arabischer und sozialistischer Revolutionen und Erfolge.
Dadurch, dass die Sowjetunion realpolitisch Stellvertreterkriege gewinnen wollte, sozialistische Staaten innenpolitisch Antisemitismus verschweigen wollten, um ihre Systeme als überlegen darstellen zu können und schließlich erinnerungspolitisch kommunistische Opfer des Nationalsozialismus besonders betont werden sollten, während jüdische Opfer unterschlagen wurden (vor allem diejenigen, die dem stalinistischen Terror vor dem Nationalsozialismus zum Opfer gefallen waren oder nach dem Überleben des Nationalsozialismus dem Sozialismus in der Sowjetunion zum Opfer fielen) wurde der Staat Israel von linken Bewegungen viel kritisiert. Kombiniert wurde diese Kritik auch mit der antisemitischen Verschwörungstheorie, dass die Finanzmärkte der USA besonders von jüdischen Menschen gelenkt würden.
Zugleich gab es in Deutschland die linke Position (die es logischerweise teilweise in allen linken Bewegungen gibt), dass das Konstrukt eines Staates grundsätzlich abzulehnen sei. Staaten und Grenzen seien zu überwinden. Statt wie die Sowjetunion den Staat als nötiges Vehikel der Machtergreifung der Arbeiterklasse zu verstehen, argumentiert die linke Idee, Staaten als Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismus abschaffen zu müssen, mit anarchistischen oder rätedemokratischen Motiven gegen Staatenkonstrukte überhaupt. Besonders die Kontinuität des Täterstaats Deutschland wurde in der deutschen linken Bewegung kritisiert: Die Möglichkeit der Umwertung der Werte (Hannah Arendt) bedeutet in dieser Logik, dass das System Rechtstaat selber übergriffig und unrechtmäßig ist. Wenn man nur einige Paragrafen ändern muss, und wenn gerade die besitzende Klasse kontinuierlich vor, während und nach dem Nationalsozialismus im Geheimen weiterherrscht, dann kann aus dem Nationalsozialismus nur gelernt werden, wenn Deutschland als solches überwunden wird. „Nie wieder Auschwitz“ gelte also erst in der Bedeutung: „Nie wieder Deutschland“. So wurde die „antideutsche“ Bewegung geboren. Diese progressive und radikale Argumentation entstammte natürlich einem universitären Milieu (zum Beispiel in der Nähe der sozialwissenschaftlichen Schule in Frankfurt bei Adorno und Horkheimer).
Doch aus einer solchen Denkweise heraus wurde schnell klar, dass die Kritik an Israel aus dieser Logik heraus verfehlt ist. Einerseits, weil die antimperialistische Argumentation nicht konsequent antistaatlich ist, wenn sie nicht die Gefahr nationaler Befreiungsbewegungen in den arabischen Staaten oder der Interimslösung eines Einparteienstaates in der Sowjetunion klar benennt. Letztlich können auch Befreiungsbewegungen, die nationalistisch sind, in unrechtmäßige Bewegungen umschlagen, und auch die Sowjetunion verfolgte „nationalistische“ Interessen. Andererseits, weil sich in der Kritik an Israel selbst nationalistische, antisemitische Argumentationsmuster verstecken.
Dieses letzte Argument haben nicht nur Adorno und Horkheimer vorgebracht, sondern vor allem Jean Améry. Auch er war ein jüdischer Shoahüberlebender. In einem Artikel, der 1969 in der ZEIT erschien, kritisierte er die Mehrheit der antimperialistischen linken Studierendenbewegung der 68er dahingehend, dass diese sich besonders auf Israel als Staat stürze. Ihre Kritik fände aber nicht in einem kontextlosen Raum statt. Warum kritisieren sie nicht genauso vehement andere Staaten (inklusive dem, in dem sie leben, nämlich Deutschland)? Améry sah in dieser Fixierung eine Form von Antisemitismus, der zwar nichts mit dem nationalsozialistischen Antisemitismus gemein habe, aber sich hinter dem Antiimperialismus und dem Antizionismus verstecke. Der Artikel „Der ehrbare Antisemitismus. Die Barrikade vereint mit dem Spießerstammtisch gegen den Staat der Juden“ ist wie viele von Amérys Texten nicht nur einflussreich für das Denken, das man später antideutsch nennen sollte, sondern besonders streitbar.
(Mehr zu Amérys provokantem Denken und abgefahrenem Leben werde ich in drei weiteren Texten, die bald in kurzer Folge auf dem Blog erscheinen, thematisieren.)
Jean Améry machte sich aber dadurch keineswegs mit konservativen Denkweisen gemein, die die antiimperialistische Bewegung der Studierendenbewegung aus ganz anderen Gründen ablehnten. Und so geht auch heute eine hyperventilierende Debatte, in der „Antideutsche“ aus einem legitimen Unwohlsein bei der Art und Weise, wie über Israel und Jüd_innen geredet wird, aggressive Schaukämpfe machen, in denen es ein Erfolg ist, wenn eine befeindete Intellektuelle ausgeladen wird, oder in der im Gegensatz dazu der Boykott von SodaStream und der für sie werbenden Scarlett Johannsen zum revolutionistischen Freiheitskampf geriert, während einem außen- und wirtschaftspolitisch sonst nichts interessiert, an der Sache vorbei.
Die Sache ist komplex (wegen der Geschichten und Traumata, wegen der Akteur_innen und Opfergruppen), sie ist aber keineswegs kompliziert. Vielleicht haben doch beide Seiten schuld, vielleicht sind doch Betroffenenperspektiven wichtiger als Nichtbetroffenenperspektiven, vielleicht kann man doch Konflikte und Kriege mit verworrenen und verletzenden Streitigkeiten im privaten Bereich vergleichen, vielleicht liegen viele Gründe auch in der Geopolitik oder der Wirtschaftspolitik, kurzum: vielleicht hat bei der imaginierten Dresdner Universitätsdebatte zum Nahostkonflikt doch die langweilige Naturwissenschaftsperson nach drei Bier recht und nicht die edgy Geisteswissenschaftsperson.
Die antideutsche Bewegung war aber keine Verschwörung, die dafür da war, durch die Debatte, ob man Israelflaggen auf antinationalistischen Demos tragen darf, die linke Bewegung kaputtzumachen, sondern eher ein Antidot in Amérys Sinne gegen die versteckten Antisemtismen europäischen und deutschen Denkens.
P.S.:
1 absurdes Beispiel „antideutscher“ Ausladepolitik (ob sie wirklich antideutsch ist, ist eine andere Frage), muss ich hier noch unterbringen. Vor einem Jahr wurde Judith Scheytt der erst zugesprochene Grimmepreis doch nicht verliehen, weil ihre TikToks oder Reels Kritiker_innen zu unausgewogen und damit latent antisemitisch waren. Jetzt gerade (Oktober 2025) hat es dazu geführt, dass zwei Journalisten, nominiert in einer Arbeit über K.I., den Grimmepreis diesen Jahres aus Solidarität nicht annahmen. Es hat nicht gerade zur Validität der Kritik beigetragen, dass für den Nachweis des latenten Antisemitismus eine Studie mit schlechter K.I. erstellt wurde. Aber ironisch ist dieses Beispiel der K.I.-Nutzung, das bestimmt bald Schule macht, irgendwie schon.
Der Wikipedia-Artikel dazu ist sehr ausgewogen, ausführlich und sehr zu empfehlen: https://de.wikipedia.org/wiki/Judith-Scheytt-Donnepp-Media-Award-Aff%C3%A4re